RudolfHaegele

"Montserrat oder auf der Suche nach der sichtbaren Welt."
Der Maler Rudolf Haegele
von Wolfgang Heger

"Ich hatte mir oft gedacht, daß die sichtbare Welt eine vergessene Sprache sei, ein "Kode", zu dem wir den Schlüssel verloren haben. Da war mir, als sei dieses gewaltige Gerüst aus Flächen, dieses spröde, von Schattenbahnen durchschnittene, von Schauern durchrieselte, an den vier Enden des Raumes errichtete Gebäude aus Farben und Formen aller Tiefe entkleidet und bloß zusammengesetzt aus Anspielungen auf irgend eine unergründliche Wirklichkeit dort tief im Dunkel, in unermeßlichen Fernen. Jede dieser Formen war uns ins Blickfeld gerückt, um etwas zu bedeuten - aber die Bedeutung kannten wir nicht...." (schreibt der französische Autor Jean Tardieu.)

Die Sensibilität für die Grundrisse der Welt und die Suche nach ihren Geheimnissen ist ein grundlegender Wesenszug der Arbeit Rudolf Haegeles. Nicht nur im Sichtbaren suchte er nach Lösungen für die Bedeutung der Formen, von denen Jean Tardieu spricht, sondern auch im Denken. Gerade auch in der Auseinandersetzung mit Dichtern und Schriftstellern, mit Philosophen und Mythologen, hat er seinen Schüssel zu der "vergessenen Sprache" der sichtbaren Welt gesucht.

Rudolf Haegele hielt nicht viel von einer Lebenshaltung die Rudolf Arnheim bereits vor dreißig Jahren als "belanglose Lebensführung" bezeichnete, einer Lebensführung des "Nebenbei und Zugleich", die das heutige, moderne Leben zunehmend kennzeichnet.

Während unserer ersten Begegnung, im ersten intensiven Gespräch, ging es nicht um Malerei, nicht um bildende Kunst, sondern es ging um Literatur - eigentlich mein Fachgebiet und trotzdem - im Gespräch mit dem Maler Rudolf Haegele, Professor an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart, fühlte ich mich angestrengt wie ein Prüfling im Magisterexamen, so intensiv und konzentriert war er bei der Sache. Ich fragte mich ernsthaft: "Woher weiß der Mann das alles?" und war am Ende des Gesprächs völlig erschöpft.

Da ging es um etwas, da war etwas wichtig - und zwar in Dingen, die für viele zwar schön, belehrend und bereichernd sind, aber im Grunde bloßer intellektueller oder intelligenter Zeitvertreib - für Rudolf Haegele aber war das alles wirklich existentiell wichtig - lebenswichtig.

Ich glaube, jeder seiner Schüler hat diese Ernsthaftigkeit gespürt und dankbar mit ins eigene Leben hineingenommen. Man muß dabei betonen, daß man solche intensiven Erfahrungen während der Phase des Lernens und der Ausbildung nicht gerade häufig macht. Deshalb betrachte ich Rudolf Haegele in gewisser Weise als meinen Lehrer. Nebenbei - ich bin ihm noch heute dankbar dafür, daß er mir stets das entgegengebracht hat, was Lernende vielleicht noch mehr brauchen als die intensive Förderung oder Herausforderung durch eine Lehrerpersönlichkeit-nämlich Respekt. Er hatte einen selbstverständlichen, durchweg unarroganten Respekt vor anderen Meinungen und Personen. Ähnlich konzentriert wie die erste Begegnung war jedes unserer Treffen. Kunst, das war für Rudolf Haegele gewiß keine "Technik zur Unterhaltung der Sinne" (R. Arnheim), es ging ihm nie nur darum, ausschließlich (Maler)-Auge oder Pinsel zu sein, es ging ihm nicht allein um das gute Bild, um die perfekte Arbeit, sondern immer auch um die geistige Spurensuche nach der Substanz des menschlichen Lebens und Denkens.

Immer ist er auf einer Art von geistiger Wanderschaft, immer umkreist er subtil die "Haut der Natur" auf der Leinwand, bezeugt, trotz aller Abgründe, die er vorfindet, immer wieder seine Verbundenheit mit dem Sein und mit der Schönheit der Natur. Die sinnliche Textur von Rudolf Haegeles Arbeiten: ihre Glätte, ihre wüstenartige Runzligkeit, ihre spontane und punktuelle transzendente Leuchtkraft bezeugt nicht nur die Erdverbundenheit Haegeles; die Bodenhaftung, die sein Werk kennzeichnet, steht zugleich auch für die Textur der Gedanken, für ein Bewußtsein, das sich im und als Bild niederschlägt. Das Bild ist bei Rudolf Haegele ein wortloser und trotzdem beredsamer Mittler zwischen dem Denken des Künstlers und seiner Entäußerung, es ist der Versuch einer Mitteilung, besser eines behutsamen Sagens. Dabei geht er einen eigenen Weg der Abstraktion, der nicht immer zugleich völlige Gegenstandsferne meint. "Abstrahere" bedeutet lat. 'wegnehmen', es bedeutet für Haegele soviel wegzunehmen, bis man zu den Bereichen gelangt, die hinter oder unter der Oberfläche liegen, bedeutet Empfindungen freizulegen angesichts der Phänomene, bedeutet Reaktionen auf Jahr und Tag zu zeigen, bedeutet bedächtige Verzögerung und Mißtrauen in den Reiz der spontanen Gestaltung des Augenblicks. Das Arbeitsverfahren Rudolf Haegeles ähnelt der Natur der Erinnerung. Das Bild, das so entsteht, ist immer eine Rückkehr zu etwas, was einmal in der Zeit vorgedacht wurde. Es ist immer eine Begegnung der Gegenwart mit der Vergangenheit.

Ein Bildanlaß mag lange in der Vergangenheit, also im Gedächtnis liegen, zum Bild wird er erst dadurch, daß Rudolf Haegele den konkreten Anlaß gewissermaßen aus der Zeit (heraus)-nimmt und ihn in die Sprache seiner Bilder bettet. Rudolf Haegele reduziert also nicht eine vorliegende Form auf seine Struktur, er ist nicht auf der Suche nach den Ausdrucksformen der Konstruktion oder der Konkretion in seinen Kompositionen.

Seine Arbeit wirft auf eine zurückhaltende Art existentielle Fragen auf.

Er liefert den Betrachter dennoch nie dem existenziellen Schmerz aus, immer bleibt die Arbeit im rechten Maß, sie übt keinen Terror auf die Sinne aus, sie überwältigt nicht, sondern sie ermöglicht ein Nachsinnen oder eine Art Nachbearbeitung von Schmerz, Trauer und Resignation.

Ich finde deshalb Rudolf Haegeles Arbeit auf schöne und zugleich mutige Form "unmodern"; oder - ein bedeutsamer, vielsagender Unterschied -vielleicht besser: "unmodisch". Vielleicht liegt Rudolf Haegeles Skepsis gegenüber dem modernen Kunstbetrieb gerade darin begründet, daß wir in einer Zeit leben, in der das Zeit(geist)gemäße zugleich automatisch auch als das Gute betrachtet wird. Jedenfalls ist er ein Unzeitgemäßer, denn er hatte die Kraft, sich mit der existenziellen Not des Menschen in seiner Arbeit über die Jahre beharrlich und bescheiden auseinanderzusetzen ohne nach der Mode des Tages zu fragen. Rudolf Haegele schreibt dazu selbst: "In der Spannung von Zugehörigkeit und Distanz, von Teilhabe und Loslösung liegt die Aufgabe des Künstlers in der Zeit." Wohl findet sich bei ihm Melancholie, zuweilen Pessimismus, aber immer ist das verbunden mit einer Haltung, die das Schöne und das Lebenswerte auch in der Trauer zu bewahren versteht. Eine Malerei, die in keiner Weise erzählerisch ist und aus der doch eine Fülle durchdachter Erfahrungen strömt. Was die Farbe auf der Leinwand verschweigt, bringt der Bildtitel oft zum Sprechen, besser formuliert: zum Ausdruck. Die Leinwand ist also nicht nur Träger von farblichen und formalen Kompositionsmustern, sondern wird zu einer Art von transzendentem Raum.

Für den mythischen Gehalt in Rudolf Haegeles Bildern gilt paradoxerweise ein ähnliches Verhältnis wie zwischen Sprechen und Verschweigen: flüchtig, wie in den Wind geschrieben und zugleich immer präsent; zugleich verborgen und allgegenwärtig. In Rudolf Haegeles Arbeit geht es nicht um Beschreibung, seine Topographie ist geistiger Natur; genau so begegnet er auch dem Menschen im Bild.

Da geht es weniger um Anatomie, vielmehr um Archetypen, allesamt sind sie mythische Figuren wie z.B. Marsyas, Ezechiel, Athene, oder sie sind Stellvertreter von Haltungen des Ein- und des Widerspruchs im Gedenken beispielsweise an den spanischen Dichter Garcia Lorca (der im Spanischen Bürgerkrieg erschossen wurde) oder an Christian Friedrich Daniel Schubart (der im Kerker auf dem Hohenasperg einsaß).

Aber da findet sich nie ein erhobener Zeigefinger, nie das Bessserwissen, das Vorschreiben, denn dem Betrachter bleibt es selbst überlassen Rudolf Haegeles Bilder "Zu-Ende-zu-Denken".

Die Anspielung auf den Mythos ist bei Haegele eine Ausdrucksform, die der verstümmelten Botschaft, dem Menetekel an der Wand, entspricht. Der Adressat ist unbekannt, vielleicht ist seine Botschaft rebellisch allein an den leeren Raum gerichtet und nicht mehr an ein Gegenüber. Wer mit dem Monolog nicht auskommen kann, der sucht den Dialog mit der Wand. Die Mauer erscheint bei Rudolf Haegele als sinnvoller Platz für Meditationen über die Vergänglichkeit. Was beinhaltet die Mauer nicht alles: sie definiert Raum, ist Behausung, gibt Schutz und bietet Sicherheit, zugleich kann sie unerträgliche Enge sein, Aus- und Abgrenzung, Festung oder Gefängnis. Sie ist Natur(material) und zugleich Handwerk und sie ist ein Äquivalent zur Leinwand, ein widerspenstiges Medium des Sagens, ein zeitloser Spurensammler von Lebensäußerungen. Die Buchstaben und Gegenstände auf der Mauer sind bedroht von der Unschärfe, die die Zeit stiftet (wieder das Spuren-Motiv!). Jede Mauer hat eine Vergangenheit, jede Landschaft auch. Wer von Vergangenheit spricht, meint ja immer auch - Zeit. Buchstaben und Körper verschmelzen in diesen Bildern zu einer Einheit und stehen plötzlich gemeinsam vor einer Schwelle; der Tür, hinter der sich das Unbekannte, vielleicht eine neue Bedeutung, öffnet. Gerade noch im Bekannten und Vertrauten, driftet die menschliche Figur hinüber in den unbekannten Raum. Die seltsame Liaison von Schrift und Körper, von Sinn und Sinnlichkeit. Die menschliche Figur wird damit selbst zur mythischen Inschrift.

Der Mensch selbst wird zum Schatten, zum "Entwurf mit flüchtiger Kontur", wird den eigenen verlöschenden Zeichen an den Wänden immer ähnlicher. In Haegeles Arbeit wird deutlich, was die Wände zum Sprechen bringt. Kratzspuren und Inschriften sind lebendige Zeitungen, Nachrichten, die, über die bloße Information hinaus, den Ort der Sprache bezeichnen, der den Namenlosen zukommt. Sie ist der Ort für den Aufschrei, für Protest und liebenden Anruf.

Eine Welt der Gefühle gegen die Richtsprüche der selbstgerechten Philister und spießigen Besserwisser, Widerworte den imposanten Baudenkmälern der Weltenlenker. Nicht die Sprache der Herrschenden ist es, es ist die Sprache des Menschen in der Revolte, und meist verzeichnet kein Geschichtsbuch Name und Anlaß. Die Schrift an der Wand beschreibt unzensiert die verletzliche Haut der Dinge, und zwar jener Dinge, die unter die Haut gehen.

Mühevoll ausgekratzt: ein Sinn, ein Bekenntnis, ein Gebet; alles an die Wand gesprochen - aufschlußreich ist diese Redewendung! Und doch leuchtet in diesen Arbeiten immer das Licht der Utopie, richtet sich der Blick immer wieder nicht nur auf irdische Begrenzung sondern auf transzendente Weite und Erhabenheit. Das Triptychon "Montserrat" scheint gleichsam als Quintessenz für Rudolf Haegeles Ringen um die Conditio humana zu stehen. "Montserrat" das ist ein Gebirgsmassiv in Katalonien, mit dem sich Rudolf Haegele intensiv beschäftigt hat.

Berge scheinen Künstler magisch anzuziehen; erinnert sei nur an Hokuseis '36 Ansichten des Berges Fuji', und auch der große Paul Cézanne hat seinen Hausberg, die Montagne St. Victoire, die er in seiner Kunst verehrt und der er über 35 Ansichten abgewinnt. Paul Cézanne erschafft sein visionäres Landschaftsmonument aus unmittelbarer Anschauung, denn Cézanne sitzt seinem Berg betrachtend gegenüber, Rudolf Haegele dagegen, hat seinen "Montserrat" als eindringliche Vision in sich.

Da braucht es keine Raumtiefe mehr, da muß der Berg nicht mehr ausgesagt, muß der Berg dem Betrachter nicht mehr gezeigt werden, 'Montserrat' ist bereits ein poetischer innerer Besitz, ähnlich dem "Reich von Atlantis" von dem der Spätromantiker E.T.A. Hoffmann in seinem "Goldenen Topf" spricht, eine geheimnisvolle Chiffre für eine Existenz, die nicht einfach zu entziffern ist, eine Hieroglyphe, die sich dem Alltagsblick verweigert, die sich nicht profan ausspricht. Ich verdanke Dagmar Haegele, der Tochter Rudolf Haegeles den Hinweis, daß sich in der zentralen Tafel dieses säkularisierten Altarbildes, die Gestalt der "Morenata", der Schwarzen Madonna aus dem Benediktinerkloster auf dem Montserrat beinahe unmerklich andeutet.

Montserrat, ein Symbol der Innerlichkeit also, Montserrat bedeutet soviel wie "gesägter, zersägter Berg" schreibt Rudolf Haegele. Monumental trotz oder wegen seiner `Verletzungen' durch die Erosion, ein Zwischending von Wüste und Gebirge. Haegele schreibt weiter: "Als Friedrich Schiller die Schilderung las, die Wilhelm von Humboldt von seinem Besuch auf dem Montserrat gab, rief er aus, Montserrat sauge den Menschen von der äußeren Welt weg in die innere Welt hinein."

Cézannes gewinnt seinen Mt. St. Victoire aus unmittelbarer Anschauung, sagte ich eben, Rudolf Haegele dagegen gewinnt seinen `Montserrat' ähnlich ergriffen wie Friedrich Schiller, aus der Arbeit des Bewußtseins. Der erinnerte, topographische Ort wird nicht nur zu einem geistigen Erfahrungsraum, sondern zu einer metaphysischen Landschaft. "Der Berg ist ein Symbol des im Leib existierenden Bewußtseins, auf der Erde ruhend, aber zu Gott aufstrebend.

Der Berg repräsentiert immer den ansteigenden Hügel der Existenz und Gott, der auf seinem Gipfel zu erreichen ist." schreibt Sri Aurobindo, eine der großen Vermittlerfiguren zwischen westlichem und östlichem Denken. Dieser ansteigende Hügel der Existenz findet sich nicht allein im Bild 'Montserrat', sondern wird zudem formal unterstützt durch die triangulär ausgerichtete Form der Bildtafeln dieses Triptychons. Rudolf Haegeles Arbeiten zeigen eine unauslotbare Verschränkung von Leben und Tod, von Gebundenheit und Befreiung, von Vergangenheit und Gegenwart.

Sie sind ein Bekenntnis zum Fragment - also zum bewußt Unvollständigen und nicht zum Ausgesagten. Sie sind eine bescheidene Formulierung dessen, was der Mensch vom Ganzen wissen kann und der Zusammenhang, der in seinen Bildern vor allem anderen das zerbrechliche Leben heilt, ist gelassene Stille.

Noch einmal Jean Tardieu. Er schreibt: "Wir müssen verstummen. Nichts kann dieses Ding ohne Namen ausdrücken. Nichts. Nichts, wenn nicht ein paar auf die Leinwand geworfene Striche."

Und weiter:
"Ich, als Maler, würde diesen unnützen "Sinn" (ob man ihn nun Objekt oder Subjekt, Darstellung oder Natur nennt) unterdrücken. Ich würde Worte in einer Schrift schreiben, die nur mir allein bekannt ist. Ich würde "Briefe" schreiben, wem ich will. Ich würde allen Dingen schreiben, lebenden und unbeseelten Wesen, Menschen wie Tieren, Sternen wie Flüssen - die Buchstaben der Leidenschaft, in einer unbekannten Sprache." (Jean Tardieu, Mein imaginäres Museum)

Und ich glaube, das hat Rudolf Haegele getan.

Wolfgang Heger, Stuttgart im November 1998